Das fliegende Klassenzimmer –
Bildung auf dem Kirmesplatz

Ein Bericht von Rosa Severeyns, Präsidentin des belgischen Schaustellerfrauenvereins und Vizepräsidentin der Europäischen Schausteller-Frauenunion, über das Schulprojekt „De Carrousel” für Schaustellerkinder in Belgien.

Bildung ist eines der wichtigsten Güter im Leben eines jeden Menschen. Sie ist zugleich ein entscheidendes Standbein einer demokratischen Gesellschaft. Eine stabile Wissensbasis öffnet Türen, hilft Schranken zu überwinden und eine Orientierung im Alltag zu haben. Jedes Kind, egal welcher Herkunft, besitzt ein Recht auf eine angemessene pädagogische Hilfestellung. Kein Kind ist dumm. In jedem von ihnen schlummern Fähigkeiten und Kompetenzen, welche es gilt, zu erkennen und zu fördern. Wir, die Erwachsenen, sind verpflichtet den künftigen Generationen beizubringen, wie man seinen Verstand einsetzen soll, um im Leben weiter zu kommen. Dies gilt auch für die Schaustellerkinder. Sie wachsen, wie in unserem doch recht geschlossenen Milieu so üblich, in einem engen Kreis von Verwandten und Freunden auf. Ihr Leben ist an den Kirmesplatz gebunden. Ein Schausteller zeichnet sich in der Regel durch ein hohes Zugehörigkeitsgefühl aus. Überlieferte Traditionen werden bei uns nach wie vor großgeschrieben. Seit je her wirkt der Schausteller inmitten der Gesellschaft. Er ist eigentlich nie allein und immer am Puls der Zeit. Doch trotz der augenscheinlichen Unbefangenheit, dem Leben im Wohnwagen, ist er von seinem Umfeld abhängig.

Kommunikation ist ein Schlüsselwort. Aus diesem Grunde ist es wesentlich, dass der Kirmesbeschicker soziale Kontakte mit der sesshaften Welt pflegt. Kommunikation ist eines der Schlüsselworte, wenn es um die Zukunft meines Gewerbes geht. Mit den neuen Geschäften braucht man technisches Know-how, um klarzukommen. Die Zeiten, wo Hammer und Kneifzange ausreichten, um auf Reise zu gehen, sind längst vorbei. Schaustellerkinder riskieren, in ihrer eigenen Welt hängen zu bleiben. Heute gibt es in Belgien noch immer 25-Jährige, die weder lesen noch schreiben können. Man muss ihnen folglich die greifbare Möglichkeit geben, ihren Horizont zu erweitern, so wie dies für andere Kinder und Jugendliche auch der Fall ist. Früher hatte man über den Bildungsweg eines Kindes bei uns keinerlei Kontrolle. Man kam am Mittwoch an und am Dienstag war man wieder auf Reise. Noch vor 50 Jahren fand der Unterricht – wenn überhaupt – im Wohnwagen statt. Oftmals war es ein Privatlehrer, der uns lesen, schreiben und rechnen lehrte. Ich selbst komme aus einer kinderreichen Familie. Wir waren 17 Geschwister: 9 Knaben und 8 Mädchen. Für unsere Eltern war es nicht einfach. Zur Schule ging ich, wo gerade Kirmes war. Viel gelernt habe ich da nicht. Im Klassenzimmer dachte ich immer wehmütig an die Kirmes, an meine Welt. Eigentlich hatte ich kein Interesse an Lernstoff. Darüber hinaus fühlte ich mich immer sehr fremd. Als Schaustellerkind saß ich immer hinten in der Klasse. Da war es nicht möglich eine richtige Beziehung zu anderen Kindern aufzubauen. Vertrauen konnte man nicht fassen. Im Grunde genommen wurden wir fast immer akzeptiert. Für so manchen Kameraden waren wir ja auch interessant, wenn auch exotisch. Und dann hatten wir immer Fahrscheine und Jetons für gratis Karussellfahrten in der Tasche! Den Winter waren wir drei Monate im Winterlager in Westmalle. Ich besuchte dort die Schule. Hier machte ich mir Freunde, die ich auch heute noch immer treffe.

Bildung heißt Zukunft. Meine Tochter Astrid ging bis zum 16. Lebensjahr zur Schule. Dann ließ ich sie ihre Zukunft selbst bestimmen: Schaustellerei oder eine Perspektive in der sesshaften Welt. Schließlich studierte sie romanische Philologie. Mit 28 Jahren machte sie ihren Abschluss. Jetzt arbeitet Astrid als Professorin an der Europaschule in Brüssel. Sie reist nicht mehr. Oft fragt man mich, ob ich nicht enttäuscht oder traurig bin über ihren Entschluss ein Leben abseits des Kirmesplatzes zu führen. Den Leuten antworte ich dann mit einem klaren Nein. Warum sollte ich also meiner Tochter ihren Weg verbauen? Sie hat sich ja nicht ganz aus unserer Welt verabschiedet. Immer wieder zieht es sie auf die Kirmes und ihre Freunde besucht sie hier nach wie vor. Ich selber habe so eine Chance nie gekriegt. In meiner Jugend fand ich es toll, mich den ganzen lieben Tag lang auf den Festplätzen herumzutreiben. Heute, da ich besser Zeit habe, merke ich, dass genau dieses Herumhängen der Schaustellerjugend schadet. Wenn sie nicht an den elterlichen Geschäften zu finden sind, sitzen die Kinder und die jungen Leute vor dem PC-Bildschirm oder dem Fernseher. Sie stopfen sich mit DVDs und mit Computerspielen voll und stumpfen ab. Ihre eigentlichen Fähigkeiten verkümmern. Damit gerät die Schaustellerei, die ohnehin schon auszusterben droht, ins Hintertreffen.

„Rijdende School” in den Niederlanden als Vorbild. Diese finstere Zukunftsvision bereitete mir sehr viel Kummer. Ich überlegte, wie man unseren Kindern in Belgien einen richtigen Halt geben könnte. Schließlich brachte mich mein Mann Janny de Vries auf die Idee, das holländische Modell der „Rijdende School”, d. h. der fahrenden Schule, als Inspiration zu nehmen. In Holland gibt es seit 52 Jahren eine Schule für Schaustellerkinder. Immerhin gingen schon zwei Anwälte und verschiedene hochstudierte Schausteller aus diesen besonderen Schulbänken hervor. Das Klassenzimmer muss ein Stück Zuhause hergeben, den Kindern Geborgenheit geben. Aus diesem Grunde wurden ein eigens dafür hergerichteter Sattel umgebaut und mit dem erforderlichen Mobiliar ausgestattet. In Belgien wollten wir an der untersten Sprosse der Bildungsleiter anfangen. Unser Lebensrhythmus zwingt uns, unsere Kleinen in einer Schule und einem Internat einzuschreiben, sobald sie mit sechs Jahren schulpflichtig sind. Für die Zöglinge bricht dann eine Welt zusammen. Sie werden zum ersten Mal von ihrer Umgebung getrennt. Ohne Vorbereitung werden sie ins Schulleben hinein katapultiert. Dies nimmt ihnen oftmals den Mut und die nötige Energie, um auf einen grünen Zweig zu kommen. So wird ihr Bildungsweg von Anfang an erschwert.

Vorschulunterricht am Kirmesplatz. Damit auch unsere Kinder die gleichen Ausbildungschancen für ihre Zukunft haben, habe ich mich daran gesetzt, in einer ersten Phase einen geeigneten Vorschulunterricht am Kirmesplatz anzubieten. Die fahrende Schule ermöglicht es unseren Sprösslingen, sich von klein auf an das Leben in einer schulischen Umgebung zu gewöhnen. Sie integrieren sich später besser in die Gesellschaft. Zudem werden die Eltern entlastet. Darüber hinaus brauchen wir geeignetes und motiviertes Lehrpersonal. Die Lehrer sind wichtige Bezugspersonen. Wenn sie den richtigen Draht zu den Kleinen aufbauen, dann können sie zu einer moralischen Stütze werden. Für die Kinder ist es wichtig zu lernen, wie sie mit ihren Mitmenschen umgehen sollen. Neben Disziplin und Wissen sollen sie entdecken, wie es ist, den anderen zu zuhören, ihre Meinung zu respektieren. Sie sollen diskussionsfähig und kreativ werden. Es war mir von Anfang an klar, dass der Staat hier seine Verantwortung übernehmen müsste.

Ich las eines Tages in der Zeitung, dass der flämische Unterrichtsminister Frank van der Broucke, erklärt habe, Kinder unter 8 Jahren hätten ein Recht auf Unterricht. Das würde auch für die Vorschule gelten. Ich sagte mir sofort: „It’s now or never.“ Ich zögerte nicht lange und nahm Kontakt mit dem Sekretariat des Ministers auf. So konnte ich schließlich van den Brouckes Sekretär mein Anliegen unterbreiten. Drei Wochen später kündigte der Unterrichtsminister sein Interesse an unserem Vorhaben an. Er wollte dieses Projekt mit einer Probezeit von drei Jahren anlaufen lassen und finanzieren. Ein(e) Lehrer(in) sollte sich um das Wohlergehen der Schüler kümmern. Die Stelle wurde ausgeschrieben. Diese Person sollte für uns und unsere Kinder ein Freund, eine Vertrauensperson, eine Kontaktperson sein. Unter den zwölf Kandidaturen entschied man sich für eine Pädagogin, Diane.

Die für die Grundschule zuständige Behörde des Unterrichtsministeriums überwacht nun den Fortgang des Projektes. Alle zwei Monate wird eine Inspektion durchgeführt. Hier interessiert man sich für die Probleme der Schule, besonders aber für die Fortschritte der Kinder. Die Lehrerin ist mit dabei. Das Ministerium trägt die Kosten für das Projekt: Personalgehälter, Transportkosten und Unterhaltskosten für den Sattel, den wir bei unseren holländischen Kollegen für eine vorläufige Laufzeit von drei Jahren gemietet haben. Die Instandhaltung des fliegenden Klassenzimmers liegt in den Händen der Schausteller selbst. Bei einem solchen Projekt fehlt es natürlich immer an finanziellen Mitteln. Aus diesem Grunde rief der belgische Schaustellerfrauenverein, dessen Präsidentin ich bin, eine Aktion zum Sammeln von Unterstützungsgeldern ins Leben. Mit dem Kauf einer Karte konnte jeder Interessierte seine Sympathie zum Ausdruck bringen. Fast alle Schausteller, Freunde, Lieferanten und Geschäftsleute, die mit der Kirmes zu tun haben, engagierten sich auf diese Weise, um die Restkosten zu tilgen. Ein Versicherungsunternehmen versicherte unsere Schule gratis. Alle Städte, die von diesem Projekt gehört hatten, waren begeistert und stellten uns einen Standplatz, samt Strom- und Wasserversorgung, gebührenfrei zur Verfügung. Im September 2006 gingen wir in Leuwen an den Start. Prince Laurent wohnte der feierlichen Einweihung bei. Damals waren nur vier Kinder eingeschrieben. Nur einen Monat später hatten wir eine feste Gruppe von zwölf Kindern. Anfangs waren die Schaustellerfrauen nicht so sehr vom Projekt überzeugt. Heute, zwei Jahre später, sind sie regelrecht begeistert. Im Moment haben wir 25 Schüler. Daraus schließen wir auf den Fortschritt unserer Idee. Wir überlegen sogar, ob wir eine zweite Schule innerhalb dieser drei Jahre in Betrieb nehmen können. An Nachfrage mangelt es nicht, weil viele Veranstaltungen in Belgien parallel laufen. Das Unterrichten erfordert Flexibilität und Differenzierung in vielen Bereichen. Die Lehrerin macht jeden Tag andere Gruppenaktivitäten, sodass jeder Schüler seinen Platz im Unterricht findet. Sie hat festgestellt, dass es Defizite in der Feinmotorik bei vielen Kindern gibt. Sie haben auch nicht alle das gleiche Alter. Die Sprachenvielfalt in Belgien ist eine zusätzliche Herausforderung für die Pädagogin. Es werden auch Ausflüge gemacht. Das Angebot reicht vom Spielplatz über den Waldspaziergang bis zum Stadtbummel. Die jeweiligen Stadtverwaltungen leisten hier ihren Obolus. Auch das Gespräch mit den Eltern wird gefördert. In individuellen Sprechstunden können sich die Eltern über ihr Kind informieren und mit der Lehrerin reden. Die Kirmesschule stößt auch in der Öffentlichkeit auf reges Interesse. Sogar Kinder aus der Stadt besuchen uns. Ein Film konnte realisiert werden. Studenten analysieren das Projekt. Höhere Schulen und Lehrerfortbildungsanstalten interessieren sich für die pädagogische Arbeit. Sie wollen Interviews mit den Beteiligten machen. Das wird manchmal so intensiv, dass die Lehrerin den Andrang der Leute bremsen muss, um sich den Kindern widmen zu können. Auch die regionalen und nationalen Medien zeichnen ein sehr positives Bild unserer fahrenden Schule.

Unsere fahrende Schule trägt ihren eigenen Namen: „De Carroussel“. Der Erfolg spricht Bände und ehrt die Eltern, den Verein der belgischen Schaustellerfrauen sowie den zuständigen Minister, der das Projekt Schritt für Schritt verfolgt. Wir sind jetzt zwei Jahre am Arbeiten und haben ein gutes Gefühl für die Zukunft. Es ist noch zu früh, Bilanzen zu ziehen. Nicht alles läuft rund. Das liegt auf der Hand. Um zu lehren, müssen wir noch viel lernen. Gänsehaut überkommt mich, wenn ich merke, wie nett die Verwaltungen auf unsere Vorschläge eingehen. Dankbarkeit und Herzlichkeit sind zwei wichtige Grundtugenden unseres Milieus. Im Jahr 2006 verlieh die Europäische Schaustellerunion Minister van den Broucke einen Ehrenpreis für seine hohen Verdienste im Sinne des Schaustellernachwuchses. Bedanken können wir uns vor allem bei der Lehrerin Diana, bei den Verantwortlichen der „Rijdende School“ aus den Niederlanden, bei den vielen Kolleginnen und Kollegen, beim belgischen Schaustellerverband „De Verdedeging der belgische Foorreizigers“, bei Minister Van der Broucke und bei jedem, der dieser Schule sein Herz geschenkt hat.

Unser ambitioniertes Vorhaben ist mittlerweile auch im Ausland auf fruchtbaren Boden gestoßen. Ein Freund und Kermisgeck aus Luxemburg, Steve Kayser, brachte uns direkt in Kontakt mit der Luxemburger Unterrichtsministerin Madame Mady Delvaux-Stehres, die dieses Projekt auch in Luxemburg während der Schobermesse durchführen möchte. Um die 25 Kinder werden ab August 2008 in Platznähe eine Akademie besuchen können. Dabei knüpfen die Organisatoren an die Tradition der in den 50er Jahren von der Gattin des ehemaligen Staatsministers Pierre Werner gegründeten Kindertagesstätte an. Sie wurde in den folgenden Jahrzehnten besonders liebevoll von Liette Majerus weitergeführt und aus organisationstechnischen Gründen leider eingestellt. Für ganze Generationen von Schaustellern nimmt Luxemburg einen besonderen Platz in ihrem persönlichen Gedächtnis ein. Eine solche Auffangstruktur wird in Luxemburg hohes Ansehen genießen. Sie soll auch dazu dienen, das Großherzogtum kennenzulernen. Hier haben die Kleinen die Möglichkeit, ein Stück Europa griffbereit zu erleben und zu erkunden. Europa ist unsere Zukunft. Das sollten wir auch unseren Kindern beibringen. Hat man die Jugend, dann hat man auch die Zukunft!