Vom „Fahrenden Volk“

Eine Betrachtung

Fahrendes Volk – der Ausdruck, der heute keinen herabsetzenden Sinn mehr hat, ist bereits oft gefallen. Er ist die Bezeichnung für ein ehrliches Gewerbe, das sich auch im Umherziehen durch artistische Künste oder sauberen Handel seinen Lebensunterhalt verdient. Die Schule, die dabei durchgemacht werden muss, ist gewiss nicht leicht. In früheren Jahrhunderten war es nur natürlich, dass sich bei den festlichen Anlässen und Feiern auch viel fremdes und zweideutiges Volk zusammenfand. Gerade diese Elemente verstanden es, aufgrund ihrer Kenntnis von fremden Gegenden, fremden Sitten und Gebräuchen, das unterwegs Gesehene und Gelernte der in der Kultur und der Lebensweisheit weit zurückgebliebenen Landbevölkerung in Form von Zauberkunststücken oder anderen Schaustellungen vorzuführen.

So hat auch die hohe Wissenschaft der Medizin durch den Mund der Scharlatane auf den Jahrmärkten ihr Gastspiel gegeben. Dr. Eisenbarts zweifelhafte Kunst verdankt ihren Ruhm seiner Schaustellung auf Messen und Märkten. Wenn auch in diesem „Fahrenden Volk“, das wohl einen ständigen Wohnsitz überhaupt nicht kannte, keine strengen Zunftregeln vorherrschten, so bildete es doch eine kleine Zunft für sich, die beim Publikum weder Ansehen noch Achtung genoss. An dieser Stelle muss auf die umfassende und gründliche Monographie von Theodor Hampe „Die fahrenden Leute in der deutschen Vergangenheit“ aufmerksam gemacht werden, die in Wort und Bild davon erzählt, wie zunächst unter dem Begriff „Fahrendes Volk“ zugleich die Spielleute, Himmelreicher (Puppenspieler), Gaukler, aber auch die Bettler, die vagabundierenden Landsknechte, ja sogar die Straßenräuber verstanden wurden. Es spricht für die Lebenskraft, für die Zähigkeit dieses Standes, dass er sich aus den Tiefen zu der geachteten Stellung, die er im 20. Jahrhundert einnimmt, emporgearbeitet hat.

In den Rechtsaufzeichnungen des Mittelalters, so im Sachsen- und im Schwabenspiegel, gelten die Fahrenden, die von Ort zu Ort zur Erheiterung des Publikums zogen, als ehrlos und rechtlos. So war es beispielsweise gestattet, einen „Klopffechter um Geld“ zu erschlagen wie einen herrenlosen Hund, ohne dass man für den Totschlag irgendwelche Buße zu entrichten brauchte. Diese Vaganten standen, gesellschaftlich gesehen, damals mit dem Henker und seinen Knechten auf einer Stufe. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts erst wurde für eine menschenwürdigere Gesetzgebung gesorgt – der Begriff der Unehrlichkeit wurde von den Fahrenden genommen und lediglich auf das Henkertum beschränkt. Trotzdem wurden die Gaukler, Affenführer, Puppenspieler, Seiltänzer, Akrobaten und was sie sonst darstellten, an vielen Orten noch mit Schimpf und Schande davongejagt oder zu öffentlichen Arbeiten gezwungen. Der französische Ausdruck „en monnaie de singe“, etwas mit Affengeld = Kleingeld bezahlen, rührt wohl von dem Brauch her, den Affenführern nur einen Sou oder gar nichts zu geben. In manchen Gegenden stellte man sie unter einen „Fahrenden Leute König“, der eine Art polizeiliche Überwachung ausübte. Noch im Jahre 1912 saß in Köln ein „Bubenkönig“, der auf die fahrenden Frauen und Männer aufzupassen hatte. Auch gab er die Erlaubnis zum öffentlichen Auftreten.

Das Bild eines mittelalterlichen Festes ist sicher bunt und prächtig gewesen. Ein mittelalterlicher Chronist, der Stricker, berichtet um 1200 davon, dass bei einem deutschen Fest 300 welsche Geiger, 6.000 Spielleute, 2.000 Harfner und 20.000 Sänger anwesend gewesen seien – selbst wenn er übertrieben hat, so geht doch daraus immer noch die Größe einer solchen Veranstaltung deutlich hervor. Zu diesen Spielleuten gesellten sich dann die Joculatoren – Jongleure, Gaukler ist das gleiche Wort – , mit denen sich die Lodderer oder Lotterbuben vereinten. Diese schwangen als Abzeichen ihrer Würde das Lodderholz, ein Brettchen, das sie zum Wahrsagen und zum Taschenspiel brauchten. Sie tanzten zwischen Messern und jonglierten mit Kugeln oder zeigten abgerichtete Hunde und Affen. Besonders schlaue Taschenspieler machten sich zu „Professuren der Magie“. Ein Limburger Chronist berichtet, dass im Jahre 1397 zum Reichstage in Frankfurt am Main 550 fahrende Leute anwesend waren. Die Spielleute waren Solisten oder Spielgruppen. Aus einer Wismarer Spielleuteverordnung von 1443 erfahren wir auch Näheres über die Instrumente. Fiedel, Pfeife, Pauke, Posaune, Rotte und „Flügel oder Harfe“ werden genannt. Zu ihnen gesellt sich bald die Sackpfeife oder der Dudelsack, der rasch ein wahres Volksinstrument wurde – das Akkordeon des 14. und 15. Jahrhunderts konnte man beinahe sagen. Auch das Hackbrett oder Cimbal, der Vorläufer unseres Klaviers, tritt mit dem 12. Jahrhundert auf.

Je mehr wir dann der neueren Zeit zusteuern, umso bunter wird das Bild und die Chronisten fangen schon an, von den Wundern zu sprechen, die Fahrende verrichteten. Allmählich gesellten sich auch die Frauen zu den Gauklern, aber mit ihnen will niemand etwas gemein haben. Bis schließlich kein Geringerer als Hans Sachs schreibt: „Seid auch heute nicht ungehalten, wenn wir ein Frauensmensch mit auf die Bretter bringen, sintemal ich es für ein Mädchen nit für lästerlich halte, falls sie Witz hat, zum fahrenden Volk zu gehen und mit den Mannsleuten um die Wette zu ligieren. Solche eine dient Gott ebenso wie eine, die gut spinnen kann, ihm am Rocken dient, und wenn auch die meiste Welt anderer Ansicht ist, kann ich doch von dem Glauben nit lassen und will ihn gegen den besten Vater und die fleißigste Mutter vertreten.“

Mit den Gauklern zusammen erscheinen die Wanderhändler auf dem Volksfest. Da waren die Händler aus Nürnberg, die auf ihren „Schiebekarren allerlei Larven und Dockenwerk und Papierzeug“ führten. Der Nürnberger „Tandhändler“ zog im November aus und kam meist in der Winterzeit, um seinen Weihnachts- und Fastnachtskram anzubieten. Aus Thüringen erschienen die Schachtelmacher und die Händler mit Haus- und Küchengeräten. Was die Familie geschaffen hatte, das mussten die jüngsten Söhne, wenn sie „auf die Handelschaft“ gingen, verkaufen. Nichts zu tun hatten die fahrenden Leute mit den Zigeunern, im Gegenteil, sie kamen nicht mit ihnen in Berührung. Auch der Staat sah bald ein, dass das Wandergewerbe – Handel wie Schausteller – ein ehrlich strebender Stand war. Die Behörden waren sich darüber klar, dass das Wandergewerbe eine gute Steuereinnahmequelle sei, und Bismarck hat in einer Parlamentssitzung einmal gesagt: „Hände weg vom Wandergewerbe, das sind meine besten Steuerzahler“.

Von den fahrenden Spielleuten kann oder konnte man noch vor wenigen Jahren reden, wenn man an jene Dörfer in der Pfalz denkt, deren Männer im Frühjahr Häuser und Familie verließen, um erst im Herbst von ihrer „Tournee“ als Musikanten auf den Straßen, in Zirkussen und Schaubuden – früher konnte man wirklich sagen: in aller Welt – zurück kehrten. Pfälzer Musikanten traf man vor dem Ersten Weltkrieg in Trupps von einem halben bis zu einem ganzen Dutzend wirklich überall. In der Welt der reisenden Zirkusse halten und galten sie noch heute als die besten Zeltbauer, die es auf der ganzen Welt gibt. Die Musikanten aus der Pfalz sind in der Welt so berühmt, dass auch Christoph Kolumbus, als er 1492 auf Guanahani landete, von einer Pfälzer Kapelle empfangen wurde. Wenigstens sagt man das in der Pfalz, und da wird es ja wohl wahr sein! Das musikantische Bild der Städtchen und Dörfer prägte sich jedem Besucher ein. Da trompeteten schon die kleinen Jungen, und wenn sie zehn Jahre alt sind, klemmen sie die Trompete unter den Arm und wandern ins Nachbardorf, um „Abstoßen“ zu lernen. Aus der Schule entlassen, ging es schon auf die Reise. Manche der Musikanten blieben zwei Jahre fort – China, Sibirien, Australien, Nordafrika, Kanada wurden besucht.

Die Weltkriege brachten Verwirrung und Leid unter die Familien der Musikanten. Mancher von denen, die in der Jugend so auf Reisen gingen, ist dann doch ein berühmter Musiker geworden, mancher von ihnen in der Fremde verschollen. Kam man später zurück, dann wurden die Ersparnisse meistens in einem kleinen Häuschen mit Landwirtschaft angelegt. „Ersparnisse“ – damit sei auf eine gute Tugend des gesamten „Fahrenden Volkes“ hingewiesen, die oberflächliche Betrachter gerne übersehen: die Fahrenden unserer Tage sind ehrenwerte Bürger, die Sinn für Familienleben und gesunde wirtschaftliche Verhältnisse haben, die zusammenhalten wie die Glieder einer einzigen und einigen glücklichen Familie. (tw/red.)